Im Gegensatz zu Fussball ist Bergsteigen eine defensive Sportart. Wer beim Fussball gewinnen will muss ein Goal erzielen.
Wer beim Bergsteigen gesund nach Hause zurückkehren will sollte wenn immer möglich kein Goal erhalten.
(Zitat © by Stefan Wullschleger)









Donnerstag, 27. Juli 1995


AIGUILLE VERTE
28./29. JULI 1995
zusammen mit
Emanuel Wassermann (Bergführer)
 

Vor rund 1 ½ Stunden haben wir unseren kleinen Biwakplatz am Ende des Felsteils des Arête des Grands Montets verlassen. Wir haben die kälteste Zeit des Tages genutzt um bei günstigen Verhältnissen die steile Firnkuppe der Aiguille Verte zu ersteigen. In wenigen Minuten wird die Sonne aufgehen, es ist nicht einmal speziell kalt hier oben auf dem 4122m hohen Gipfel. Mein Bergführer Mani Wassermann und ich geniessen das überwältigende Panorama. Unten die Lichter von Chamonix, dort ist noch Nacht, vom Mittelland bis ins Rhonetal liegt ein grosses Nebelmeer, über den Berner- und Walliseralpen kündet sich in zarten Rosa- und Orangetönen der kommende Tag an, eine grosse Stille. Kurz vor sechs Uhr geht die Sonnen neben der Aiguille d’Argentière auf. Sonnenaufgänge auf Bergtour sind immer schöne Momente, nach den langen Stunden in der Nacht endlich zu ersten Mal im Licht zu stehen und etwas Wärme zu spüren. Aber erst recht hier oben, auf diesem gewaltigen Gipfel inmitten der mächtigen Bergwelt des Massif du Mont Blanc, was für ein Erlebnis! Der Mont Blanc glänzt golden im ersten Licht, daneben auf dem Dunst über Haute Savoie projiziert sich der Schatten „unseres“ Berges. Genau so wie das Bild, das wir vor zwei Tagen auf der Reise nach Chamonix, in der Alpinzeitschrift „Vertical“ bewundert haben!

In mir laufen die Bilder des gestrigen Tages und der vergangen Stunden nochmals ab. Was für ein Luxus, eine Bergtour gemütlich im späten Vormittag zu starten. Mit der Seilbahn sind wir gestern auf die Aiguille des Grands Montets gefahren und haben die warmen Nachmittagsstunden genützt um die schwierige Felskletterei im fantastischen Chamonix-Granit zu geniessen. Steile Risse wechseln mit herrlichen Platten, zum Schluss eine eindrückliche Abseilstelle und wir stehen auf einem flachen Absatz um Beginn des Firnteils unserer Tour. Der Platz ist wie geschaffen für unser Biwak. Der Kocher wird ausgepackt, der Topf mit Schnee gefüllt und schon bald gibt es einen heissen Tee, während wir die grandiose Umgebung geniessen. Der Gipfel der Aiguille Verte zeigt sich in einem wunderschönen Abendrot, für uns wird es Zeit uns für die kurze Nacht zu richten. Möglichst alle Kleider anziehen, das ausgebreitete Kletterseil dient als Isoliermatt, die Füsse in den Rucksack eine Rettungsfolie als weitere Isolierschicht. Nicht gerade vier Sterne Komfort aber umso mehr weiss man danach ein Bett zu schätzen. Als es am kältesten wird ist es Zeit um aufzustehen. Wieder surrt der Kocher, die Spannung steigt, ein warmer Kaffee etwas Brot und Käse und schon geht’s los in der Dunkelheit, hinauf über steile Firnhänge Richtung Gipfel der Aiguille Verte.

Ein paar Minuten nach Sonnenaufgang verlassen wir den Gipfel um die lange, schwierige Überschreitung von Grande Rocheuse und Aiguille du Jardin anzuhängen. Wieder ein erlebnisreicher Tag, schmale, ausgesetzte Firngräte wechseln mit steilen Kletterstellen im verschneiten Felsen. Endlich im frühen Nachmittag eine letzte Abseilstelle über den Bergschrund hinunter auf den flachen Gletscher. Die Anspannung der vergangen Stunden weicht langsam, der Rest geht nur noch an die Kondition. Am späten Nachmittag erreichen wir die Zahnradbahn in Montenvers, die uns hinunter nach Chamonix bringt. Die Zivilisation hat uns wieder - und wir geniessen sie, genau so wie die vergangenen zwei Tage.

Kletterei im Arête Grands Montets
Schlüsselstelle an der Pointe de Ségogne
 

Aiguille Verte im Abendrot
vom Biwakplatz am Col du Nant Blanc
 

Sonnenaufgang auf dem Gipfel
 

Der Schatten von "unserem" Berg
auf den Dunst über Haute Savoie
  

Gipfelgrat der Aiguille Verte im
Anstieg zur Grande Rocheuse
 

Der Firngrat am Col Armand Charlet
und der Gipfel der Aiguille Jardin (links)
vom Gipfel der Grande Rocheuse